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Nina Schedlmayer

Projizierte Welten

Der Kartograf und Journalist Philippe Rekacewicz erinnerte sich einmal daran, wie ihm während der politischen Umbruchszeit 1989 die kartografische Manipulierbarkeit des Blicks auf die Welt bewusst wurde. Ostdeutschland, das „Gegenstand ­vieler Projektionen gewesen war“, sei ihm als Terra ­incognita erschienen, schließlich habe man bloß alte topografische DDR-Karten gekannt. Auch auf sowjetischen und anderen ost­europäischen Karten „waren ‚weiße Flecken‘ keine Seltenheit“, so Rekacewicz. „Die einzigen offiziellen Karten waren Scheingebilde: Der Westen sah auf ihnen wie eine unberührte Gegend aus, auf eigenem Territorium existierten keine ­Militärbasen, und wichtige Städte waren um zig Kilometer verlegt.“ Ihm ­zufolge „lügt jede Karte, indem sie Dinge verschweigt. ­
Während sie ­verkleinert wiedergibt, was in der Weite des ­Raumes ­existiert, verfälscht sie die Wirklichkeit, weil man eben nie alles Vorhandene abbilden kann.“

Olaf Osten verwendet für seine Arbeit Gebiet 006 (S. 65) eine Landkarte als Basis, die angeblich die Wirtschaft Europas wieder­gibt. Diese stellt er – wie üblich in seinen Arbeiten mit karto­grafischem Material – auf den Kopf: eine Maßnahme, mit der er eine kritische Haltung einnimmt. Die „Wirtschaftskarte“ aus der Nachkriegszeit bildet in zeittypischer Grafik das Vorkommen von Bodenschätzen ab. Auf der Wandkarte, die einst in ­Schulen zum Einsatz kam, verteilen sich ­Piktogramme, die Eisen, Öl, aber auch Wein und Baumbestände symbolisieren: Europa als Land, das von seiner Bevölkerung unendlich aus­geschöpft werden kann, ein Bild aus Zeiten, in denen Klima­schutz und Nachhaltigkeit noch keine politischen Themen waren. Das Denken ging in Richtung „open end“, wie es der ­Künstler ausdrückt. Wenn Rekacewicz ­darüber reflektierte, wie ­Karten ­seinen Blick auf Osteuropa beeinflussten, so prägten ­Schul­karten wie die hier ­verwendete die Generation jener, die ­heute für politische und wirtschaftliche Weichen­stellungen verantwortlich sind. „Wer in den 1960ern mit diesen ­Karten ­lernte, gehört heute zu den Entscheidungsträgern“, sagt ­Osten.Karten wie diese produzieren ein „Bild des ­Wissens“, das ­hegemoniale Ansprüche anmeldet. Die Philosophin ­Christine ­Buci-Glucksmann schreibt: „Vom Unbekannten maritimer und ­solarer Ferne, von der gefährlichen ­Reise, die der Zwänge der Naturgesetze nicht achtet, bleibt nichts als ein Bild und ein Wissen, weniger noch, nur das Bild eines Wissens, das ­nunmehr jeden Eingriff erlaubt. Nach Belieben kann es gelesen und interpretiert, in ­Atlanten zerstückelt und als ­Planisphäre wieder zusammengesetzt werden. ‚Das Reich der Karten‘ kann nie mehr sein als der ideelle Ersatz einer Weltherrschaft, eine projizierte Welt, eine ‚Imago mundi‘.“

Die „projizierte Welt“ in Ostens Karte wählt einen ­verengten Blickwinkel: „Wirtschaft“ wird ausschließlich in ­Bezug auf ­Bodenvorkommen betrachtet. Heute relativiert sich ­diese Sicht. Die Ressourcen sind nicht unendlich, die lange ­währende ­Ideal­vorstellung steten wirtschaftlichen Wachstums steht ­unter Beschuss. Der Künstler schafft dazu ein Gegenbild, ­indem er die Karte mit einem Symbol nachhaltigen Wirtschaftens ­über­blendet: dem Olivenbaum, einer Pflanze, die „das Leben eines ­Menschen überdauert und über Generationen hinweg existiert.“Dem ­Begriff des Wachstums setzt er ein langfristiges Konzept ­entgegen: das des nachhaltigen Wirtschaftens. „Die Karte ist eine Multiplikation der Gesichtspunkte, die nicht eröffnet, sondern anvisiert werden“, sagt Buci-Glucksmann.Werden in der „Wirtschafts­karte“ die Bodenschätze anvisiert, so sind es anderswo politische Grenzen oder topografische Gegebenheiten. ­Notwendigerweise muss eine Karte sehr ­reduziert sein: Ansonsten wäre sie, wie unter anderem von Jorge Luis ­Borges ­imaginiert,ein Eins-zu-eins-Abbild. Dies bringt freilich stets ­politische oder gesellschaftliche Implikationen mit sich.

Wie ­Gebiet 006 ­verweisen auch andere Arbeiten Ostens darauf. Gebiet 016 ­(S. 27) etwa basiert auf einer „politischen ­Karte“ ­Europas, ­Maßstab 1:60 Millionen, die er in einem seiner ­Taschenkalender vorfand. Er setzte darauf vier Weg­weiser, die in unterschiedliche Richtungen zeigen: ­einer auf ­Russland, einer auf Island, einer mitten ins Meer und ­einer auf jene, die das Bild betrachten. Wohin soll man sich ­wenden? „Die Pfeile weisen über das System Karte ­hinaus, hin zu verschiedenen politischen Lösungsmöglichkeiten“, so der Künstler. „Es ist wie ein Geschrei. Man steht davor und ist in seiner Meinungsbildung hilflos.“ Die Pfeile sind ­fixiert an einer Stange, die „irgendwann jemand einbetoniert hat.“Steht die Stange für die EU, sind die Wegweiser die ­Institutionen, Parteien, Lobbyisten, Interessensträger, die das Wahlvolk in jeweils unterschiedliche Richtungen ­treiben wollen? Die Offenheit von Ostens Kunst macht solche Inter­pretationsspielräume zugänglich.  

Ein Wegweiser, eine Landkarte insinuieren ­Fortbewegung. ­Bewegung und Kartografie bedingen einander. ­Christine ­Buci-Glucksmann schreibt: „Denn wie die Etymologie uns lehrt, wird die Karte im Lateinischen als ­geschriebenes oder ­gemaltes itinerarium bezeichnet, wie jene ­römische ­Itinerar-Karte, die Peutingerschen Tafeln, auf denen alle Wege, die das Imperium durchziehen, in dessen Zentrum ­zusammenlaufen, in Rom.“

Dem Moment der Bewegung stehen bei Osten die ­Bäume ­entgegen, die so häufig vorkommen: Für den ­Künstler ­bilden sie Orte des Verweilens und Innehaltens. Eine ­Zeder streckt ihre Äste über eine Karte des Nahen ­Ostens, Zypressen breiten sich über einer Deutschland­karte aus, ein Gingkopflänzchen steht auf ­einem ­umgedrehten Kalenderblatt. Dabei gehen die ­Bäume mit ihrem Grund oft reizvolle Verbindungen ein: In Gebiet 006 ­hängen die roten Trauben, die Weingebiete bezeichnen, ­tatsächlich als Früchte am Baum, anderswo werden die ­Punkte, die ­für Städte stehen, zu Kirschen. Flüsse und Straßen ­erscheinen als Äste: So verbindet sich das Symbol für das Innehalten mit den Zeichen für die Fortbewegung.

Die Dichotomie zwischen Bewegung und Verharren, ­zwischen ­Dynamischem und Statischem zieht sich durch die ­vorliegende Publikation. Sie zeigt sich auch in Ostens ­Zeichnungen vom ­Inneren von Zügen oder U-Bahnen: ­Menschen werden bewegt, bleiben aber sitzen. Diese scheinbar ­paradoxen Situationen ­erfahren eine weitere Übersetzung in Ostens Kurzfilmen: Eine Flasche wird von Wasser umspült, bewegt sich aber nicht vom Platz. Eine Liftkabine gleitet über eine Berglandschaft; in der Aufnahme scheint ihr Schatten jedoch nicht vom Fleck zu kommen, blickt doch das Kameraauge aus dem Objekt, das den Schatten wirft. Diese Arbeiten von Olaf Osten kehren den Begriff des ­„rasenden Stillstands“, den Paul Virilio in einem kultur­kritischen Sinn prägte, um. Sie untersuchen eine ­stehende ­Bewegung: Man ist unterwegs und verharrt dennoch. Hier schließt sich der Kreis zur Landkarte: einem Medium, das ­seine ­Betrachter und Betrachterinnen vom Lehnstuhl aus auf Gedankenreisen schickt.

Nina Schedlmayer, 2019